Stephan Querfurth
Braunschweig. Großartig. Könnte man so sagen. Aber das trifft nicht die Aufführung dieses Konzertes in St. Johannis. Fantastisch. Grandios. Überwältigend. Fulminant. Glänzend. Alles nur Worte. Hapernde Worthülsen, die versuchen einzufangen, was der Musik mit seinen Instrumentalisten, Choristen und Solisten gelungen ist: Sie hat bewegt. Sie hat angerührt. Sie hat in Anspruch genommen. Worte, die viel deuten, bewerten, aber eins nicht Zustandebringen: Das Erleben.
Ich schreibe diesen Text nicht als Journalist, als Kritiker, nicht als jemand, der dem Konzert als Zuhörender beiwohnte, sondern als jemand, den Verdis Musik angefasst hat, bewegt hat.
Giuseppe Fortunino Francesco Verdi hat im Zeitraum von1813 bis 1901 leben dürfen. Er ist katholisch sozialisiert aufgewachsen. Er hat die Befreiungsstürme in Europas gegen eine vorgeblich gottgewollte Staatsordnung erlebt. Sie haben ihn geprägt. Und er hat auch deren Restauration erleben müssen. Die Würde des Menschen, auch in der Niederlage, hat er in seiner Musik festgeschrieben. Tod ist Niederlage, ist mit undefinierbarer Furcht verbunden. Die Theologie umhüllt ihn mit dem Ausgeliefertsein an Strafgericht und Fegefeuer. Verdi hat in diesen dramatischen trostlosen Zustand einen Kontrapunkt gesetzt, die Hoffnung, die Auferstehung. Die Befreiung. Der Tod des von ihm geschätzten Komponisten Gioachino Rossini 1868 und des von ihm verehrten Schriftstellers Dichters Alessandro Manzoni 1873 haben die Gedanken eines Requiems in ihm Wurzeln gelegt.
So ist in seinem jetzt in der Johanniskirche aufgeführten Requiem die katholische Tradition des Gedenkens, des Ausgeliefertsein des Menschen manifest geworden, gleichzeitig aber auch Leben für geistige und weltliche, vielleicht sogar auch für religiöse Freiheit greifbar gezeichnet.
Verdi ist katholisch sozialisiert, ist aber über die Enge des Glaubens hinausgewachsen und versteht das Evangelium anders als die Theologie seiner Zeit: Als Chance menschlicher Befreiung aus einengender Machthabe. Wurzelnder Glaube und das Erleben der Kraft der italienischen Freiheitsbewegung seiner Zeit sind Gedanken und Verneigung in diesem Requiem.
Deswegen kann es leise einhergehen, aber auch dramatisch in der Kraft der Hoffnung, Wege aufzeigen.
Wem in diesem Konzert in der schwierigen Akustik der Johanniskirche das Lable der Grandiosität zuzusprechen ist? Der Gedankenfreiheit des Komponisten? Dieser Musik, die Gedenken zur Gegenwart macht? Ihren Choristen? Ihren Solisten? Ihren Instrumentalisten? Die Frage erübrigt sich.
Die gut 120 Mitglieder des Chores „Sine Nomine“ und der „SingAkademie Niedersachsen e.V“ waren unter den herausfordernden Sätzen des Requiems die tragende Säule des Werkes. Mal sind sie die atemlos Gehetzten, erinnern an die Chöre des antiken Theaters, mal atmen sie den Geist freiheitlichen Lebens und Überlebens und singen ihn voller Kraft in die Menge vor ihnen. Die vier Solisten Florentine Schumacher (Sopran), Ruth Katharina Peeck (Alt), Chun Ding (Tenor) und Jakob Kreß (Bass) sind ihnen Eckpunkte und Verstärker. Die eine Säule im Ganzen. Die Musiker des JPON - Junges Philharmonisches Orchester Niedersachsen e. V. waren mit existentieller Wucht präsent, mit jugendlichem Engagement. Eine weitere Säule. Die Positionierung der Trompeten auf der Empore unterstreicht den aufrüttelnden Gedanken von Hoffnung und Freiheit, die auch in Niederlage und Tod existentiell bleibt. Bleibt noch der Dirigent in der Johannis-Kirche, Johannes Höing. Ruhig, unaufgeregt hat er alle Musizierenden im Blick, gibt ihnen Freiheiten und Vorgaben, schafft dem Werk seinen Rahmen. Und da sind noch die Zuhörenden. Sie. Wir. Ich. Sie sind eben nicht lediglich Zuhörende. Sie sind die, die angefasst und berührt sind. Die, die angesprochen sind von der Botschaft eines Verdi und dessen Ausdruck von Hoffnung und Freiheit. Von daher ein sehr aktuelles Stück in diesen Zeiten von Furcht und Angst, Misstrauen, Tod. Und Hoffnung. Vielleicht. Hoffentlich
Danke dem Chor, den Solisten, dem Orchester für dieses Stück musikalischer Freiheit. Standing Ovations. Minutenlang.