Von Stephan Querfurth
Das ist gelungene musikalische Globalisierung: Bachsches Ordinarium mit seinen gradlinigen Fugen des Kyrie und Agnus Dei, seiner strengen Formensprache und starke melodische Rhythmen feurigen Tango Nuevos vernetzen sich. Der argentinische Komponist Martin Palmeri (geb. 1965) hat die Herausforderung seiner „Misa a Buenos Aires“ zu Beginn der neunziger Jahre in Konzerthallen und Kirchenräume gestellt. Der Braunschweiger Philharmonische Chor ‚Sine Nomine‘ hat diese Herausforderung jetzt aufgegriffen und in St. Jakobi in Braunschweig umgesetzt.
Herausforderung dabei sicherlich nicht nur die Verquickung tradierten Sätze einer lateinischen Messe und die lebensfeurigen Tangoakkorde, Herausforderungen sicherlich für Chor und Orchester besonders die vielschichtige Akzentuierung der Sätze.
Chorleiter Johannes Höing hat empathisch und souverän durch das Konzert geführt. Das „Dona Nobis Pacem“ mit seiner zeitlosen Botschaft „Gib uns Frieden“ verklingt als gewaltiger, grandioser Chorsatz. Der notwendige Moment, die Sinne wieder zu sortieren, eine kurz Stille entfällt. Kaum ist der letzte Akkord verhallt, bricht sich der furiose, der frenetische Beifall der Zuhörenden für Dirigenten, Chor, den Instrumentalisten und Solistin Kathrin Hildebrandt seinen Lauf. Minutenlang. Standig Ovations.
Zu Recht. Mit der Bezeichnung „Misatango“ oder „Tangomesse“, unter der die „Misa a Buenos Aires“ auch bekannt wurde, hat der Chor ‚Sine Nomine‘ mit seinen gut siebzig Sängerinnen und Sängerinnen ein Werk mit Verve gemeistert, das mit Kyrie und Gloria, Benedictus, Credo, Sanctus und Agnus Dei eine allumfassende Gläubigkeit im Barock und aus Feurigem von Tango Argentino und Tango Nuevo eine neue Inspiration generiert. Der Ursprung des Tango mit seinen rhythmischen Strukturen liegt nur scheinbar in leidenschaftlicher Lebenslust in gleichmäßiger Schrittstruktur. Er ist tatsächlich musikalische Stimme und Ausdruck von Melancholie in Lebenskrisen.
Der Chor „Sine Nomine“ und das nur sechsköpfige Orchester des Staatstheaters Braunschweig ergänzen sich unprätentiös in den temporeichen Sätzen und den leisen Partien der Messe hin zu sehr geöffneten und ausstrahlenden Klangräumen. Stimmgewaltig und zurückhaltend lyrisch, der Chor präsentiert sich gekonnt in seiner breiten Vielfalt. Im Orchester setzt das Bandoneon mit seinem weiten Tonumfang, gespielt von Judith Brandenburg Akzente. Besondere Aufmerksamkeit aber können Gebhard Decknatel am Flügel und Christian Horn am Kontrabass erzielen. Solistin Kathrin Hildebrand gelingt mit der expressiven Stärke ihres Mezzosoprans eine eindrückliche, aber filigrane Kraft. Zusammen also eine mitreißende Harmonie mit glanzvollen Sängerinnen und Sängern und Instrumentalisten. Starke Emotionalität ehrwürdiger sakraler Kirchenmusik fusioniert mit ebenso berührendem Empfinden lebensdichten Ausdruckes. Sinnliche Elemente des Tangos und traditioneller sakraler Duktus, verbunden in der „Misatango“, machen einen genussvollen
Konzertabend, ein großes Erlebnis.
Einen ersten Zugang zum musikalischen Erleben bot zum Konzertbeginn der „Pater noster Tango“, eine Komposition der Bandeoneonistin Judith Brandenburg Starkes Flair rhythmischmelancholischen Lebensausdruckes. Sicht nur sinnliches Erleben, sondern ein eigenständiges Werk, das keinesfalls lediglich als Einstimmung in die „Misa a Buenos Aires“ betrachtet werden darf. Gerade in der Verbindung zur „Misa a Buenos Aires“ lässt das von Dissonanzen geprägte Werk für Bandoneon, Orchester und Chor in seiner theologischen Aussage aufhorchen. Es sind nicht nur die beiden Kerngebete, Kernaussagen christlichen Glaubens, sondern in beiden Werken steckt Aufbruch und Empören: Aus dem gesetzten protestantisch-
barocken Epos Bachs, hin zu einer Theologie der Befreiung, des Aufbegehrens, des Widerstandes.
So beeindruckt im „Pater noster Tango“ besonders das streckenweise mehrsprachig gesungene „Panem nostrum“ das mehr als untertänige Bitte um täglich Brot ist, sondern Schrei nach Gerechtigkeit und Forderung nach menschlichen Lebensbedingungen ist.
26. Mai 2024